Jeder ist eine Blüte
Sie stand in einem Garten wie es viele Gärten gibt: inmitten von gelben, roten und
blauen Blumen - ach es waren alle Farben vorhanden. Doch sie meinte eine
besondere Blume zu sein. Schon im Frühjahr beschloß sie, auf keinen Fall zu früh
zu erblühen. Sie könnte ja einem Spätfrost zum Opfer fallen. Schliesslich war ihr
Blumenleben begrenzt, da wollte sie nichts riskieren und ja nicht zu früh ihren
Knospenmantel verlassen.
Als im Frühling die ersten Blumen zaghaft zu blühen begannen, dachte sie: "wie
leichtsinnig meine Mitblumen ihre Blüte riskieren!". Und sie fühlte sich
bestätigt, als einige davon wirklich einmal einen Nachtfrost nicht
überstanden. Traurig sahen sie aus, die Opfer, mit ihren verknüllten Blütenblättern
auf dem gesenkten Stengel.
Im Mai und Juni erblühte dennoch eine Blume nach der anderen in voller
Pracht. Die Nelken verströmten ihren Duft und die Pfingstrosen leuchteten um die
Wette. Nur diese eine Blume stand noch immer trotzig in ihrer Knospe und weigerte
sich, ihre Blütenblätter zu öffnen: "sollten doch die anderen schon blühen", sagte
sie sich. Schlimmes hatte sie schon darüber gehört, was einer Blume so alles
zustoßen kann, wenn sie erst einmal blüht. Waren es im Frühjahr die
Nachtfröste, vielleicht auch noch etwas Schnee, so konnte der Regen im Sommer die
Blätter abschlagen. Und wie würde sie dann wirken, so ohne Blütenblätter? Vorbei
wäre es mit dem ganzen Blütenzauber.
Und erst die Vorstellung jemand könnte sie pflücken, weil sie so schön blüht! Nein
in der Vase wollte sie auch nicht landen. Niemand pflückt Knospen, dachte sie und
kam sich sehr klug und vernünftig vor. Sie wollte sich erst ganz sicher fühlen, um
sich dann mit all ihrer Kraft zu entfalten.
Allerdings bewunderte sie heimlich die Pracht all ihrer Freundinnen: wie die ihre
Blätter in der Sonne räkelten, mit ihrem Duft betörten, ihre Farben
ausbreiteten! Diese lebendige Vielfalt war ihr, die noch immer ängstlich in ihrer
Knospe hockte, manchmal ein wenig ungeheuer, bedrohlich - vielleicht, weil sie es
insgeheim erstrebenswert und herrlich fand? Tief in ihrem Blumenherzen fühlte
sie, daß sie gerne mitblühen wollte.
An manchen Tagen wurde sie dann unsicher, ob sie überhaupt mit all dieser
Blütenpracht mithalten könnte? Was würden die anderen denken, wenn sie weniger
schön wäre und nicht so gut duften würde? Vielleicht würde sie als Blüte gar
versagen?
Immer wenn solche Fragen ihr Unruhe bereiteten, fiel ihr ein, daß sie auf jeden
Fall in ihrer Knospenhülle sicher war, daß all diese Ängste sie nicht berühren
würden, solange sie einfach in ihrer Knospe bliebe. Außerdem gab die Knospe ihr
Halt und Wärme in den manchmal doch recht windigen und kühlen Sommernächten. Aber
die Blume fühlte auch Einsamkeit und Enge, die sie oft bedrängten. Und sie
spürte, daß sie ausgeschlossen war von dem prallen Leben und Blühen auf ihrem
Beet.
Nach und nach wurde sie immer ratloser. Auf der einen Seite wollte sie die
Sicherheit ihrer Knospe nicht aufgeben, auf der anderen wollte sie auch nicht so
recht in ihr bleiben. Was nun?" Wer weiß", dachte sie, wie die anderen Blumen
reagieren, wenn sie mich blühen sehen. Immerhin kennen sie mich nur als
Knospe. Wenn ich jetzt mein innerstes nach außen kehre, würden manche
möglicherweise lachen". Und ausgelacht werden wollte sie auf gar keinen Fall!
Da fielen ihr auch wieder alle Bedrohungen ein, die draußen auf sie lauern
könnten. War nicht gerade erst der stolze Rittersporn vom Nachtwind umgeweht
worden? Und die Margeriten: fast das ganze Beet hatte das Mädchen gestern
gepflückt, einfach abgerissen. Nein, danke! Das sollte ihr nicht passieren.
Trotzdem - irgendwo drängte es sie, auch mitblühen zu können, die Sonnenstrahlen
mit ihren Blütenblättern aufzufangen und den kühlen Regen zu genießen, sich
einfach in die wunderbare Farbenvielfalt einzufügen. Überhaupt: Wie mochten ihre
Blütenblätter wohl aussehen? Sie fürchtete sich vielleicht häßlich zu sein - war
aber auch neugierig auf sich selbst. Wenn wirklich mal ein Blatt abfallen
sollte, schien das so schlimm auch wieder nicht zu sein; die anderen hörten ja
deswegen nicht gleich mit dem Blühen auf, wirkten keineswegs häßlich dadurch.
Schließlich wurde es Ende August. Immer schwerer wurde ihr die Entscheidung. Angst
und Neugier, Sicherheit und Lebenslust kämpften in ihrer Blumenseele, ohne daß
eine Seite die Oberhand gewann. Konnte die Blume jetzt noch ein solches Risiko
eingehen? Immerhin war sie mittlerweile eine alte Knospe. Vielleicht sollte sie
einfach doch noch etwas warten, bis sie ganz sicher war. Sicher? In mancher
Sommernacht gestand sie sich ein, daß sie in ihrer Sicherheit immer unsicherer
wurde. Sie war immer nur Knospe gewesen, hatte keinerlei Erfahrung im Blühen. Und
doch - in ihr wuchs immer mächtiger eine Ahnung wie schön das Blühen sein
musste.
Wie gut stand den Malven ihr Rosa zu Gesicht. Wie fröhlich wippten die Wicken im
Wind! Wie beeindruckend erhoben sich über alle die sattgelben Sonnenblumen.
So wurde sie eine immer traurigere Knospe. Von Tag zu Tag fühlte sie
deutlicher, wie sich in all ihrer Sicherheit Stillstand und Leere zeigten. Sie war
zwar eine sichere Knospe - im Herzen aber eine Blume, die sich nicht zu entfalten
wagte.
Im September wurden die Sonnenstrahlen milder und das Blumenbeet langsam
leerer. Da wusste die Blume plötzlich, daß sie sich jetzt entscheiden mußte. Mit
dem September nahte auch schon der Herbst. Womöglich könnte sie dann auch
erfrieren, obwohl sie sich beinahe schon erfroren fühlte hinter ihren
Knospenmauern.
Und dann, an einem besonders schönen Septembermorgen, arbeitete sie sich doch noch
aus ihrer inzwischen harten Schale hervor. Sie wurde eine phantastische Blüte und
erntete viel Bewunderung. Am meisten aber freute sie sich, daß sie endlich den Mut
zum Blühen gefunden hatte. Sie ließ ihre Farben weithin leuchten, spielte mit Wind
und Sonne, war einfach glücklich. Sie wußte jetzt, daß Blühen nichts mit Können zu
tun hat, sondern mit Sein.
Es ist nicht überliefert, was aus ihr geworden ist. Vermutlich wird sie nur kurz
geblüht haben, da sie sich so lange nicht entscheiden konnte. Aber sie war noch zu
einer herrlichen Blume aufgeblüht, damals im September.
Kristiane Allert-Wybranietz