Der verlorene Schlüssel
Es lebte einmal in einer kleinen Stadt eine schöne Frau. Sie war nicht mehr
jung, aber auch nicht so alt, um nur noch im Lehnstuhl zu sitzen und sich der
vergangenen Zeiten, der glücklichen und der weniger glücklichen, in Freude oder
in Wehmut zu erinnern. Aber wie so viele Menschen hatte sie die Fähigkeit
verloren, Liebe zu schenken und Liebe zu empfangen.
Die schöne Frau wohnte in einem prachtvollen, großen Haus mit einem Mann
zusammen, der sehr reich war. Da gab es teure Möbel, kostbare Teppiche und eine
Kellerbar mit exotischen Getränken. Im großen Garten wuchsen seltene Blumen, für
deren Pflege ein Gärtner zuständig war, und an den Wegen ringsum standen
prachtvolle Statuen. Die Frau und der Mann besaßen jeder ein kostspieliges Auto,
die Frau trug elegante Kleider und wertvollen Schmuck, und der Mann kaufte
erlesene Eßwaren. Er sorgte auch für amüsante Gesellschaft in der Villa.
Der Frau mangelte es nicht an Hab und Gut und auch nicht an Abwechslung und
Vergnügen. Dennoch war sie nicht zufrieden mit ihrem Leben. Etwas fehlte ihr zum
vollständigen Glücklichsein. Das spürte sie tief in ihrem Innern, aber sie wußte
nicht, was es wohl sein könnte.
Fragte sie den Mann, ob er nicht wüßte, was ihr zum vollständigen Glück fehlte,
runzelte er die Stirn, griff nach seiner Brieftasche und sagte: "Wieviel?" Immer
wenn sie dieses Wort hörte, ging die Frau traurig in ihr Zimmer und setzte sich
an das Tischchen vor den Spiegel, als hoffte sie, von ihrem Spiegelbild eine
Antwort auf ihre Frage zu bekommen.
Gedankenverloren öffnete sie dann die Schublade des Tischchens und berührte wie
im Traum mit ihren Fingerspitzen eine kleine, alte Schatulle, die aus ihrer
Mädchenzeit stammte. Doch nach einer Weile zog sie ihre Hand wieder zurück und
schloß die Schublade. Im Spiegel sah sie nur die harten Linien um ihren Mund,
sah ihre matten Augen und die ersten kleinen Falten an ihrem Hals. Und dann
weinte sie wie ein Kind.
Eines Tages tat die schöne Frau etwas, was sie sich lange nicht mehr getraut
hatte. Sie verließ allein die Villa, durchquerte die Siedlung und kam an den
Stadtrand. Dort lief sie, wie früher als junges Mädchen, den Feldrain entlang
und setzte sich auf eine Blumenwiese. Danach schritt sie barfuß über den
Moosteppich des Waldes.
Auf ihrem Spaziergang begegnete sie einem Mann, der nicht im Villenviertel
wohnte und den sie vorher nie gesehen hatte. Der Mann war, wie sie, nicht mehr
jung, aber nicht so alt, um das Leben schon hinter sich gelassen zu haben. Er
hatte harte Linien um den Mund und matte Augen, wie sie, und zudem waren graue
Strähnen in seinem Haar.
Die schöne Frau und der fremde Mann machten sich einander bekannt. Ja, sie
sprachen den ganzen weiteren Weg miteinander, und jeder gefiel dem anderen, daß
sie sich am Tag darauf und an den folgenden Tagen wieder im Wald trafen. Einmal
besuchte die Frau den Mann, der im Nachbarort wohnte. Zuerst erschrak sie, denn
die Wohnung, in der er lebte, war klein und armselig. Aber es war eine Katze da,
die sofort um ihre Beine strich und sie auf diese Weise willkommen hieß. Nun
fand die Frau die Wohnung des Mannes nicht mehr ganz so armselig.
In der folgenden Zeit kam sie des öfteren zu dem Mann und seiner Katze. Bei
einem ihrer Besuche in der Wohnung des Mannes entdeckte die Frau einen kleinen
Schlüssel, den die Katze zwischen den Vorderpfoten hielt. Er war aus weißem
Marmor. Die Frau fragte den Mann, was es auf sich hätte mit dem Schlüssel. Da
antwortete der Mann: "Das ist der Schlüssel zu meinen Gefühlen." Die Frau
wunderte sich, denn solche Worte hatte sie nie zuvor gehört. Neugierig blickte
sie immer wieder nach der Katze, die sich auf dem Sofa wohlig streckte, und nach
dem Schlüssel. "Wer ihn besitzt", erklärte der Mann, "darf meine Gefühle
aufschließen." Schnell senkte die Frau den Blick. Sie errötete, aber der Mann
sprach weiter. "Einige haben ihn besessen. Aber sie haben ihn nicht gewärmt und
gehütet, sondern mit ihm gespielt. Nun gehört er der Katze."
Als die Frau wieder aufblickte, bemerkte sie, daß der Schlüssel ein paar dunkle
Risse auf der glatten Oberfläche hatte. Sie sahen aus wie Narben. Sie trat näher
heran. Schnell versteckte die Katze den Schlüssel unter ihrem Fell. Sogleich
veränderte sich der Gesichtsausdruck des Mannes. Seine Augen, die eben noch matt
waren, begannen zu leuchten. Die harten Züge um den Mund verschwanden, als er
die Katze streichelte. Die Katze begann zu schnurren. Etwas wie Neid kam in der
Frau auf. "Darf ich?" fragte sie und wunderte sich über ihren Mut. Der Mann
zögerte lange. Aber dann, nachdem er in die Augen der Frau geschaut hatte, zog
er den Schlüssel unter dem Körper der Katze hervor und gab ihn ihr.
Die Frau nahm ihn behutsam entgegen. Sogleich fühlte sie, wie ihre Hände, die
eben noch verkrampft und kalt gewesen waren, weich und warm wurden. Dabei spürte
sie leise, ganz leise in ihrem Innern eine neue Art von Glücklichsein. Nach
einer Weile blickte sie beklommen auf. Was sie sah, erfreute sie, aber es
erschreckte sie auch zugleich. Aus den Augen des Mannes leuchtete so viel
Zärtlichkeit, wie sei es nie zuvor bei einem Mann und schon gar nicht bei dem
Mann, mit dem sie zusammen lebte, gesehen hatte. Ihr wurde ganz schwindlig, und
schnell blickte sie zu Boden.
"Hab keine Angst!" sagte der Mann. Er streichelte ihr Haar, berührte ihre
Wangen, und dann küßte er sie auf den Mund. Da wurde sie ganz starr, und ihre
Hände verkrampften sich so sehr, daß der Schlüssel zu Boden fiel. Im Nu wurden
die Augen des Mannes wieder matt, und sein Gesicht war traurig. Erschrocken lief
die Frau aus der Wohnung. Ja, sie rannte davon. als wäre sie auf der Flucht vor
etwas Unbekanntem, das nach ihr greifen und sie umschlingen wollte.
Nach einigen Tagen der Verwirrung faßte die Frau wieder Mut, in den Ort hinter
dem Wald und in die Wohnung des Mannes zu gehen. Dieses Mal gab er ihr den
Schlüssel ohne zu zögern. Und sie spürte es wieder: die Ahnung eines neuen
Glücklichseins. Aber als der Mann sie umarmen und küssen wollte, verschloß sie
ihre Lippen vor lauter Angst. "Schenke mir deinen Schlüssel!" sprach der Mann
sanft. "Ich will ihn behüten, wie du den meinen." Wieder erschrak die Frau, und
ihr Herz verkrampfte sich und schmerzte, als ihr bewußt wurde, daß sie keinen
Schlüssel besaß. Jedenfalls konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals in
ihrem Leben jemandem einen Schlüssel aus weißem Marmor geschenkt zu haben.
Der Mann streichelte ihr Haar, er berührte ihre Wangen und Augen, die feucht
waren. Aber er versuchte nicht wieder, sie zu küssen. Gar zu hart waren ihre
Züge geworden und fest verschlossen ihre Lippen vor lauter Gram. Zu Hause suchte
die Frau nach ihrem weißen Marmorschlüssel, aber sie konnte ihn in der Villa
nicht finden. Da setzte sie sich in ihrem Zimmer an das Tischchen vor den
Spiegel und weinte bitterlich.
Tage und Wochen vergingen. Die Frau besuchte nur noch selten den Mann im
Nachbarort. Sie traf ihn auch nicht mehr oft auf der Blumenwiese im Wald. Denn
jedesmal wurde sie so mutlos, wenn er zu ihr sagte: "Nun schenke mir deinen
Schlüssel, bitte!" Jedesmal versprach sie ihm, beim nächsten Mal ihren Schlüssel
mitzubringen, aber immer kam sie ohne ihn. Und so mußte sie zusehen, wie der
Mann seinen Schlüssel mit den dunklen Narben der Katze gab, die nicht mit ihm
spielte und ihn nicht fallen ließ, sondern ihn mit ihrem Fell wärmte und mit
ihrem Körper behütete, daß die Augen des Mannes leuchteten und sein Gesicht
weich wurde. Wohl berührte auch sie einige Male den Schlüssel mit den Fingern,
aber zaghaft nur. Es wurde ihr jedesmal schwindlig, wenn der Mann sie zärtlich
anschaute. Und so verzweifelt war sie immer, wenn er sie leise fragte: "Warum
willst du mir deinen Schlüssel nicht schenken?"
"Ich möchte es ja!" rief sie unter Tränen. "Aber ich kann ihn nicht finden! Ich
muß ihn verloren haben!" Zu Hause suchte sie wieder verzweifelt in allen Zimmern
und Räumen, sogar in den Fluren, in der Kellerbar und im großen Garten. Dabei
wurde sie trauriger und trauriger, weil sie ja nun verstand, daß sie ohne ihren
eigenen Schlüssel weiterhin unfähig sein würde, Liebe zu empfangen. Also lebte
sie weiter in der luxuriösen Villa bei dem reichen Mann, der ihren Kummer nicht
bemerkte oder nichts davon wissen wollte, und sie nahm das Leben hin, wie es war
und wie es immer gewesen war.
Sie fühlte sich unglücklicher und ärmer denn je. Einmal fragte sie den Mann, mit
dem sie zusammenlebte, ob er nicht wüßte, wo ihr Schlüssel wäre. Er runzelte die
Stirn und sagte nur: "Das mußt du doch am besten wissen, wo dein Schlüssel zu
unserem Safe ist! Ich habe ihn nicht!" Nein, er hatte ihren weißen
Marmorschlüssel nicht, er hatte nie nach ihm gefragt. Er hatte ihr auch nie den
seinen geschenkt.
In ihrem Zimmer weinte sie, bis sie müde wurde und ihren Kopf auf das Tischchen
vor dem Spiegel stützen mußte. Der Schlaf umfing sie, er war wie eine weiche
Daunendecke, unter der sie dankbar Schutz suchte... Wieder saß die Frau an dem
kleinen Tisch und blickte in den Spiegel. Sie war alt geworden. Ihr einst so
glänzendes Haar war grau und stumpf, ihr Gesicht verblüht und über und über mit
Falten und Runzeln bedeckt. Sie wollte sich erheben, aber das Aufstehen
bereitete ihr Mühe. Ihr ganzer Körper schmerzte. So blieb sie sitzen.
Gedankenverloren öffnete sie die Schublade des Tischchens, und da sah sie wieder
die Schatulle. Ach, es war nur ein unscheinbares Kästchen aus ihrer Mädchenzeit,
einer Zeit, wie sie sich jetzt erinnerte, in der sie noch glücklich und zum
ersten Mal verliebt gewesen war. Sie hatte das Kästchen eines Tages enttäuscht
weggelegt, es in all den Jahren nicht weiter beachtet, geschweige denn geöffnet.
Auch jetzt wollte sie die Schublade wieder schließen, als sie plötzlich eine
Stimme hörte: "Hab Vertrauen und nicht Angst!" Verwundert hob sie den Kopf und
sah die Katze des Mannes aus dem Nachbarort. Mit warmen, gütigen Augen schaute
sie aus dem Spiegel heraus. "In dieses Kästchen hast du das hineingetan", sprach
die Katze weiter, "nachdem du nach außen hin die Verzichtende spieltest. Öffne
es also!" "Jetzt ist es dafür zu spät!" rief die Frau. "Wenn du das Kästchen
öffnest", sprach die Katze unbeirrt weiter, "wirst du etwas Verlorengegangenes
wiederfinden." "Ich habe Angst davor!" rief die Frau. "Hab Vertrauen und nicht
Angst!" entgegnete die Katze. Und damit verschwand die Erscheinung.
Zögernd öffnete die Frau die Schatulle. Doch dann staunte sie sehr, was da an
längst vergessenen Dingen und Erinnerungen zum Vorschein kam. In dem Kästchen
lagen bunte Lackbilder, getrocknete Blumen, Haarspangen, ein Ring, kleine
vollgeschriebene Hefte und ein Bündel Liebesbriefe. Ihr Herz fing heftig an zu
klopfen, als sie die Briefe, die vergilbt waren, beiseite schob. Und wirklich -
zwischen den vergessenen, aber jetzt wieder aufgetauchten Dingen aus ihrer
Mädchenzeit lag auch der Schlüssel aus weißem Marmor. Er sah aus wie neu aus,
ja, bis auf einen kleinen Kratzer auf der glatten Oberfläche sah er aus, als sei
er nie benutzt worden. Die Frau griff mit zitternden Händen nach dem Schlüssel.
Und in jähem Schmerz preßte sie ihn mit ihren welken Händen an die Brust. Und
sie starrte ihn immer wieder an, den Schlüssel, den sie in ihrer Mädchenzeit,
als er den Kratzer abbekommen hatte, ängstlich weggelegt, eingeschlossen und
danach vergessen hatte. Niemand hatte ihn seitdem besessen. Und so hatte niemand
noch einmal mit ihm spielen können, aber es hatte auch keiner ihn wärmen und
behüten und ihre Gefühle damit aufschließen dürfen.
Ein Gefühl der Panik überkam die Frau. Sie wollte aufspringen und schnell zu dem
Mann im Nachbarort laufen. Aber nein, sie war zu alt und gebrechlich. Sie war
auch so müde, ja, sie fühlte sich wie gelähmt. Und wenn sie in den Spiegel sah -
nein, es war besser so, hier auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und den Schlüssel
an den alten Platz zurückzutun, wo er lange, so lange gelegen hatte.
Eine Weile saß sie ganz still, aber dann kamen entsetzliche, dunkle Ängste über
sie. Da fing sie an zu schreien. Sie schrie so laut sie konnte... Sie schreckte
hoch, als eine Hand grob ihre Schulter rüttelte. "Warum schreist du so?" "Mein
Schlüssel...", flüsterte sie. "Ich habe meinen Schlüssel verloren..." "Welchen
Schlüssel?" "Den Schlüssel zu meinen Gefühlen...Wer ihn besitzt, darf meine
Gefühle aufschließen..." "Was?" "Ich habe meinen Schlüssel verloren...",
schluchzte und weinte sie. "Was hast du?" "Ich habe ihn viel zu spät
wiedergefunden..." "Du hast deinen Schlüssel zu unserem Safe verloren und ihn
viel zu spät wiedergefunden?" Da drehte sie sich um. "Ist was gestohlen worden?"
schrie der Mann sie an. Und er machte eine drohende Handbewegung und schrie
weiter: "Wehe, wenn etwas gestohlen wurde aus unserem Safe!"
Schnell blickte die Frau auf ihre Hände, die glatt waren und nicht welk. Immer
noch ungläubig schaute sie in den Spiegel, und erst als sie sah, daß ihr Haar
glänzend war und nicht grau und stumpf und ihr Gesicht weich war und nicht
verblüht und mit Falten und Runzeln bedeckt, da sagte sie zu dem Mann:
"Entschuldige bitte, ich hatte einen schrecklichen Traum!" Der Mann murmelte
etwas Unverständliches, begann zu fluchen und verließ eilig das Zimmer.
Die Frau zog die Schublade des Tischchens auf, griff nach dem kleinen, alten
Kästchen und öffnete es. Dann nahm sie den Schlüssel aus weißem Marmor heraus.
Er sah wie neu aus, ja, er hatte nur einen kleinen Kratzer auf der glatten
Oberfläche. Schon am nächsten Tag ging die schöne Frau fort aus der Villa. Sie
ließ alles zurück: die Möbel und Teppiche, ihre Kleider und ihren Schmuck, das
Auto, den Mann.
Am Stadtrand lief sie lachend und singend, wie einst als junges Mädchen, den
Feldrain entlang und über den Moosteppich des Waldes. Die Leute, die sie sahen,
schüttelten verwundert die Köpfe. Aber sie preßte den Schlüssel an ihre Brust,
als fürchtete sie, ihn noch einmal zu verlieren.
(Ulrich Stryjewski)
|
|